Bin noch frisch unter dem Eindruck eines Biomechanik-Vortrages von Dr. Heuschmann.
Ich versuch da mal was zusammenzufassen,soweit mir das hier grad wesentlich erscheint: Das wichtigste Kennzeichen eines gut gerittenen Pferdes ist der ungehinderte lange Rückenmuskel. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist das lockere Genick. Wenn das Genick nicht locker ist, kann auch das Maul nicht locker sein, und die gewünschten ruhigen "Kau"bewegungen sind unmöglich. Die vornehmsten Aufgaben sind also, zum einen den Rückenmuskel von jeglicher Tragarbeit, die er ohnehin nicht leisten kann, ohne Schaden zu nehmen, zu befreien durch entsprechendes Aufbautraining, und das Pferd im Genick zu stellen. Kann ich es nicht im Genick stellen, ist das Genick fest und somit der Rest auch. (Abhilfe Übungen, die den langen Rückenmuskel entspannen - der fängt ja am Genick an und geht bis zur Kruppe, was den Zusammenhang zwischen lockerem Rücken und lockerem Genick erklärt. ) Ein passiger Schritt ist das erste Anzeichen für einen verspannten Rückenmuskel, da der Schritt die störanfälligste Gangart ist. Was im Umkehrschluss heisst, sag ich jetzt mal: Wenn mehr nicht ist als passiger Schritt, dann ist der Rückenmuskel halt verspannt, aber noch nicht so arg, sonst kämen andere Anzeichen noch dazu. Den Rest der Vorstellung von "Ollis Pferd" kann man meiner Meinung nach durchaus der noch mangelnden Fitness des Pferdes zuschreiben. Es dauert halt länger, als es einem lieb ist, bis die zuständigen Muskeln (z.B. obere Halsmuskeln) wieder so kräftig sind, dass sie die anfangs immer vorhandene falsche Belastung des Bewegungsmuskels "Langer Rückenmuskel" verhindern können.
Vor diesem zugegebenermaßen sehr laienhaften Überblick kann man sagen: Was man auf dem Video sieht, kann ein durchaus noch nicht ganz fittes Pferd sein, dem vielleicht etwas mehr frische Arbeit etwas mehr vor der Senkrechten (damit das Nacken-Rücken-Band seine Arbeit ausführen und seinerseits ebenfalls den Rückenmuskel entlasten kann) gut täten, um die Muskeln langsam wieder aufzubauen. Die Probleme mit dem Galopp könnten sich durch mehr Muskelkraft von selbst bessern. Etwas entspannteres Reiten täte dem Schritt gut, ebenso vielleicht kürzere Einheiten mit viel langem Zügel in den Pausen. Tatsache bleibt, dass Verspannungen da sind, sonst wäre der Schritt nicht passig und die Hinterhand wäre im Galopp besser unter. Tatsache bleibt, dass daran gearbeitet werden muss - die Frage ist nur, ob durch noch mehr Reiten oder eher durch etwas weniger Reiten, wofür ich plädieren würde. Aufgrund des Videos gibt es zumindest meiner Meinung nach keinen Hinweis darauf, dass die Reiterin das Pferd nicht (wieder?) in eine lockerererererere Form bringen kann.
Zum Thema: Das Pferd wird auf L-Niveau geritten. Was heißt das denn im Klartext? Dass das Pferd A-fertig sein sollte. Mehr nicht. Ein Pferd, das auf einem Turnier in einer L-Dressur hoch platziert wird oder gar gewinnt, sollte L-fertig sein, also auf bereits auf M-Niveau gearbeitet.
Ein weiterer interessanter Aspekt des Vortrages war die Aussage von Dr. Heuschmann: Ein gut gerittenes Pferd muss nicht zwangsläufig über den Rücken geritten sein. Der Begriff "gut geritten" ist immer relativ in Bezug auf das Vermögen des Pferdes, den Ausbildungsstand und das Einsatzgebiet zu beurteilen. Z.B. muss ein Distanzpferd nicht über den Rücken geritten sein. Es reicht, wenn es sich über das Nacken-Rückenband ausbalancieren kann. Es wird oftmals ohnehin eher "gelaufene Gänge" vorziehen, weil die sehr ökonomisch sind. Und solange das Pferd eine ausreichende Kondition hat und sich frei ausbalancieren kann, so dass der Lange Rückenmuskel frei arbeiten kann, ist das völlig in Ordnung. Auch ein Wanderreitpferd komme wunderbar klar, ohne über den Rücken geritten zu werden. Auch das Rai-Reiten bezeichnete Heuschmann nicht als pferdeschädigend.
Und weiter: Das Reiten über den Rücken ist vor allem für Pferde mit einem schwungvollen Bewegungspotential unabdingbar. Pferde mit schwunglosen Gängen, wie viele Quarter, aber auch viele Barockrassen, müssen nicht unbedingt über den Rücken geritten werden. Je nach Schule kann man bestimmte Pferdetypen auch bis in höchste Lektionen "ohne Rücken" reiten, weil ihre ureigene Bewegungsmechanik dies zulässt. Diese Pferde haben eben kein schwungvolles Bewegungsbild, sondern sie zeigen gelaufene Bewegungen. Die gelaufene Bewegung allein ist also nicht verwerflich und auch nicht als "unreell" zu bezeichnen. Es müssen aber immer - egal ob schwungvoll oder schwunglos - folgende Grundkomponenten erfüllt sein: Der lange Rückenmuskel muss seine Aufgabe als Bewegungsmuskel ungestört erfüllen können, das Pferd muss demzufolge so geritten sein, dass es sich entweder selbst trägt oder sich jederzeit passend ausbalancieren kann. Ein guter Reiter ist in der Lage, sein Pferd im Rahmen der geforderten Aufgaben entspannt zu reiten. Demzufolge (in dieser Schlussfolgerung meine Formulierung) ist ein Rai-Reiter, der auf einem zufrieden und locker im korrekten und freien Schritt daherlaufenden Pferd, das einen zufriedenen Gesichtsausdruck hat und Spaß am Gerittenwerden, ein "besserer" und "reellerer" Reiter als einer, der eine gefällige S-Dressur mit Taktproblemen zeigt und dessen Pferd sich nicht beim Langlassen der Zügel sofort entspannt, sondern guckig und schreckhaft bleibt / wird.