Autor Thema: Herr der Pferde  (Gelesen 10456 mal)

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jeanne

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Herr der Pferde
« am: 21.12.05, 10:25 »
Der Herr der Pferde


Für jedes Pferd steht im Paradies ein große Truhe mit tausend goldenen Perlen. Behandeln die Menschen das Pferd auf der Erde gut, wird bei jeder Wohltat eine Perle herausgenommen. Wenn das Pferd gestorben ist und auf die ewige Weide kommt, zählt der Herr der Pferde die übriggebliebenen Perlen. Wer bei den Menschen Schlimmes erlebt hat, wird dann für die schlechte Erdenzeit entschädigt.

Eine schöne Holsteiner Schimmelstute kam eines Nachmittags am Gatter des Paradieses an. ???Deine Truhe ist fast leer”, sagte der Herr der Pferde, ???du musst ein gutes Leben gehabt haben.” Die Stute nickte bedächtig. “Meine Besitzer haben alles für mich getan. Als ich Probleme mit den Hufen bekam, haben sie mich auf die Weide gestellt, damit meine Beine geschont wurden. Sie haben dafür gesorgt, dass ich jeden Tag laufen und toben konnte, und so wurde ich mit ihnen zusammen sehr alt. Und als die Stunde des Abschieds gekommen war, sind sie bis zur letzten Minute an meiner Seite geblieben.” Die Stute schwieg einen Moment. ???Ja, ich habe es sehr gut gehabt da unten.”

???Such dir eine Weide aus”, schlug der Herr der Pferde vor. ???Ich brauche keine große Wiese”, entgegnete die Stute, ???gib die großen Weiden meinen Kollegen, die auf der Erde nicht so viele gute Tage gesehen haben.”

Als nächstes stand ein großer Friesenwallach vor dem Paradies-Gatter. Auch er war sehr, sehr alt. So alt, dass seine schwarze Mähne grau geworden war, was man nur ganz selten sieht. ???Auch bei dir finde ich nur noch wenige Perlen in der Truhe”, sagte der Herr der Pferde. ???Ich habe es sehr gut gehabt”, sagte der Friese. ???All die Jahre bin ich mit Liebe umsorgt worden. Und als die Stunde des Abschieds kam, ist mein Mensch bis zur letzten Minute an meiner Seite geblieben.”

Dann kamen zwei braune Schulpferde angetrabt. ???Wie ist es euch ergangen in der Reitschule?”, fragte der Herr der Pferde. ???Ich wundere mich, dass ich in eurer Truhe nur noch wenige Perlen sehe.” ???Das muss dich nicht wundern”, sagten die Schulpferde, ???unser Stallbesitzer hat uns helle Boxen bauen lassen, statt sich ein neues Auto zu kaufen. Weil wir bessere Trensen brauchten, hat er sogar auf den Urlaub verzichtet.”

???Gab es denn nie Reitschüler, die hässlich zu euch waren?” - ???Manchmal schon”, gaben die Schulpferde zu. ???Aber die Liebe der Kinder hat uns immer wieder Mut gemacht.” Die Braunen sahen den Herrn der Pferde an und sagten: ???Wir haben es wirklich gut gehabt da unten. Und als die Stunde des Abschieds kam, hat uns der Stallbesitzer auf unserem letzten Weg begleitet.”

Ein zierlicher, schwarzer Traberwallach kam jetzt auf das Paradies zu, kaum älter als vier Jahre. Sein Fell glänzte wie Seide, aber seine Augen waren müde und ohne Glanz.

???Warum bist du hier, mein Freund?”, fragte der Herr der Pferde. ???Du bist noch zu jung zum Sterben.”
???Ich war keine gute Geldanlage”, antwortete der Traber. ???Auf der Trabrennbahn war ich zu langsam. Sosehr ich mich anstrengte, ich konnte nicht schneller laufen. Mein Besitzer sagte, ich sei zu teuer zum Durchfüttern und hat mich zum Schlachter bringen lassen.”
Der Herr der Pferde öffnete die Truhe des Trabers und fand sie noch fast gefüllt bis zum Rand. ???Das muss ein trauriges Leben gewesen sein”, sagte er, ???hast du nicht einmal eine schöne Kindheit gehabt?”
???Kindheit - was für ein wundervolles Wort”, sagte der Traber versonnen. ???Was bedeutet es?”
???Kindheit”, sagte der Herr der Pferde, ???das heißt mit anderen Fohlen über Wiesen galoppieren, im Spiel die Kräfte messen, sich wälzen und in Seen baden, seinen Platz in der Herde suchen und Freunde finden. Man lässt doch die Pferde drei Jahre lang Kind sein, bevor die Arbeit beginnt. Hast du das nicht erlebt?”
???Nein”, sagte der Traber, “für mich fing das Training mit einem Jahr an. Sie haben mir den Kopf mit Lederriemen zurückgezogen und die Zunge festgebunden, damit ich nicht galoppieren konnte. Als ich zu langsam war, haben sie mich mit Peitschen aus Stacheldraht geschlagen.” ???Warum tun sie das?”, fragte der Herr der Pferde zornig. ???Man kann viel Geld mit Wetten auf der Trabrennbahn verdienen”, sagte der Traber, ???mit einem schellen Traber kann man reich werden. Ich war leider ein schlechtes Geschäft.”

Da führte der Herr der Pferde den kleinen Traber auf die große Paradiesweide mit Seen, die gefüllt war mit schimmerndem Himmelstaub, mit Plätzen aus goldenem Sand zum Wälzen und endlosen Wiesen zum Galoppieren. Alle Traber und die anderen Pferde, die von ihren Besitzern als Sportgerät missbraucht worden waren, vergnügten sich darauf. Fasziniert blieb der Traber stehen. ???Ist das Kindheit?”, fragte er entzückt. ???Lauf los und genieße sie”, sagte der Vater der Pferde.

Er war voller Empörung über die Menschen, aber es kam noch schlimmer. Ein polnisches Schlachtpferd schleppte sich auf das Paradies zu, ein Bild des Jammers. Ein gebrochenes Bein hing schlaff herab, Blut sickerte aus vielen Wunden im Gesicht und an der Schulter. Das Maul war grausam geschwollen, weil das Pferd sich im Pferdetransporter halb wahnsinnig vor Durst die Zunge an den Wänden wund geleckt hatte.
Als der Herr die Truhe des Schlachtpferdes öffnete, fehlte nicht eine einzige Perle. ???Wer hat es zugelassen, dass man dich so quält?”, fragte er erzürnt.
???Die Politiker”, antwortete das Schlachtpferd mit matter Stimme. ???Sie könnten die Gesetze ändern, aber es interessiert sie nicht. Es geht nur ums Geld. Man verdient viel mehr, wenn man Pferde von Polen zum Schlachten bis nach Südfrankreich oder Italien bringt.”
Der Herr der Pferde führte das Schlachtpferd auf seine größte und schönste Weide mit klaren, frischen Wasserquellen und Kräutern, die jede Wunde heilen. ???Was ist das für ein prächtiger, goldener Ball über der Weide?”, wollte das Schlachtpferd wissen.
???Das ist die Sonne. Kennst du sie nicht?” ???Nein. Aber ich habe die Menschen davon reden hören”, sagte das Schlachtpferd glücklich und ging zu den Quellen, um seinen Durst zu löschen.
Da versammelten sich die Privat- und Schulpferde, die es gut gehabt hatten auf der Erde, und sagten zum Herrn der Pferde: ???Es ist gut, dass unsere armen Freunde es hier so paradiesisch haben. Aber kommen ihre Peiniger ungeschoren davon?”

“Sie bekommen ihre gerechte Strafe.” ???Welche?”, wollten die Pferde wissen. ???Sie müssen als Pferd zurück auf die Erde. Dort haben sie das Gleiche zu erdulden wie die Tiere, die sie gepeinigt haben.”
Der Herr der Pferde winkte ihnen, ihm zu folgen. Sie gingen lange Zeit über einen schmalen Pfad, bis sie an einen großen Platz gelangten, auf dem eine gewaltige Waage aufgebaut war. Jeder Mensch wurde vor diese Waage gerufen, und es wurden zwei Fragen gestellt. Ein Rennstallbesitzer stand gerade vor dem höchsten Gericht.
???Wer hat etwas Gutes über ihn zu berichten?”, hieß die erste Frage. Es fanden sich einige, die auf der Trabrennbahn gewonnen hatten, die mit ihm gemeinsame Sache gemacht hatten, und sein Kampfhund, der von ihm gut behandelt worden war. Dann kam die zweite Frage: ???Wer von den Trabern hat etwas gegen ihn vorzubringen?”
Da galoppierten alle seine Traber heran. Die, die hohe Preise gewonnen hatten und die, die er zum Schlachter geschickt hatte.
???Was habt ihr ihm vorzuwerfen?”, fragte der Richter. ???Er hat uns die Kindheit gestohlen”, klagten die Traber. Sie stiegen auf die andere Waagschale und drückten sie mit ihrem Gewicht ganz nach unten.

Danach sahen die Pferde einen Politiker vor dem Gericht. Er fand eine ganze Anzahl von Menschen, die für ihn aussagten.
???Er wird sich geschickt herausreden - wie auf der Erde”, befürchteten die Pferde, ???da sind viele, die er mit Geld bestochen hat und die ihm wichtige Posten zu verdanken haben. Mindestens fünfzig Menschen. Wer wird gegen ihn aussagen?”
???Fünfzigtausend Schlachtpferde”, sagte der Herr der Pferde, ???er wird keine Chance haben...”

Jeanne
 

Offline Eyreen

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #1 am: 21.12.05, 11:24 »
*heul*  :'(
Das Glück der Pferde ist de Reiter auf der Erde :D Geh doch mal spazieren...

Offline MerlijnCH

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #2 am: 21.12.05, 11:33 »
Sehr schöne und emotionale :'(  Parabel, wenn sie nur wahr wäre/werden würde  :D ;)
Arroganz ist die Kunst, auf seine eigene Dummheit stolz zu sein.

Offline Olli

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #3 am: 25.12.05, 02:52 »
*heul*  :'(

einfach nur krass,aber wahr!
Wir dürfen das Pferd nicht vermenschlichen,
wir müssen uns verpferdlichen.“

jeanne

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #4 am: 07.01.06, 01:19 »
wollte nur das es viele lesen

Offline Chopin

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #5 am: 13.01.06, 12:40 »
Ich finde es einen netten Denkanstoß. Welcher Pferdebesitzer kann nach dem Tod seines Pferdes schon sagen, dass er alles richtig gemacht hat mit seinem Pferd? Denkt mal drüber nach auch ihr Kritiker ;)

Leider mache ich auch nicht alles richtig. Aber ich gebe meinen Pferden Raum um Pferd sein zu dürfen (große Weiden, Artgenossen, eine Ruhestätte, reichlich Futter, sorgsamen Umgang, medizinische Versorgung und ordentliches Zubehör). Und trotzdem mache ich manchmal etwas falsch.
Chopin

jeanne

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #6 am: 13.01.06, 16:27 »
so sollte das auch sein, ja mir einen der immer alles richtig macht??? selbst die, die sich Profi nennen nicht

Offline Mim

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #7 am: 13.01.06, 16:53 »
Hallo,

diese Gedankenrichtung fand ich auch recht nett im Zusammenhang mit Bekanten, denen es immer richtig schwer fällt, nach Jahren eine Kuh zum Schlachter zu geben - den Gedanken, während dieser Zeit soweit möglich dem Tier beigestanden zu haben, Nachtwache beim Kälbern, zu springen, wenn das Tier Probleme hatte und allgemein sorgsam mit ihm umzugehen, eine gute Zeit mit dem Tier hatten - ganz viele Perlen von denen die man selbst hat und geben kann auch aufzubrauchen.

Euch einen schönen Abend

Mim
Die-mit-dem-äusseren-Zügel-kämpft

Offline Gwendi

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #8 am: 14.01.06, 00:43 »
Ich finde die Geschichte schlecht und zwar u.a. wegen diesen Sätzen:
Zitat
“Sie bekommen ihre gerechte Strafe.” ???Welche?”, wollten die Pferde wissen. ???Sie müssen als Pferd zurück auf die Erde. Dort haben sie das Gleiche zu erdulden wie die Tiere, die sie gepeinigt haben.”

Von wem genau sollen die Pferde, die mal selber quälender Pferdebesitzer waren, die Strafe denn empfangen?
Richtig, wieder von Pferdebesitzern, die ihre Pferde schlecht behandeln.
Nette Karmaschleife. Wie soll, nach Ansicht der Geschichtenerzähler, jemans daraus entkommen werden, wenn es doch jedesmal wieder neue Pferdequäler geben muß(!), die den Pferdebesitzerpferden ihre Strafe verpassen, die dann ja wieder ihrerseits arme gequälte Pferde mit vollen Perlenkisten sein werden. (Oder etwa nicht? wär ja sonst gemein, wer soll das auf Erden denn außeinanderhalten? "Das Pferd da ist zum quälen freigegeben!"!?! Das wäre ja regelrecht faschistoid und ändert garnichts.)

Mal abgesehen davon, halte ich eh nichts von solchen Schuld&Sühnegeschichten, in denen es nur darum geht, Rache zu üben, was die Pferde in der Geschichte eben tun, da die Pferdebesitzer als wiedergekehrte Pferde ganz genauso leiden sollen wie sie selber. Irgendwer wird sie, wie gesagt, quälen müssen, wenn der Spruch sich erfüllen soll.
Dem gehts dann genauso usw, usw,...

Gut wäre gewesen, wenn die Strafe aus unmittelbarer Erkenntnis bestehen würde, die ohne die Mitwirkung anderer auskommt, die sich wieder ihrerseits schuldig machen (müssen!).

Grüßlis Gwendi 

« Letzte Änderung: 14.01.06, 00:51 von Gwendi »
Attin arkaszin boszkan ijerni, altin hoszti bolszada otka zsak

jeanne

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #9 am: 14.01.06, 10:16 »
das hast du falsch verstanden

Offline Gwendi

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #10 am: 14.01.06, 11:47 »
Wie soll ich es denn verstehen?
Attin arkaszin boszkan ijerni, altin hoszti bolszada otka zsak

jeanne

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #11 am: 14.01.06, 13:15 »
Na das die jenigen die ihre Pferde so schlecht behandelt haben,irgendwann als Pferde zurück auf die Erde müssen.......was ist daran so schwer zu verstehen??

bis jetzt haben es alle richtig verstanden

LG. Jeanne
« Letzte Änderung: 14.01.06, 13:24 von jeanne »

Offline Gwendi

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #12 am: 14.01.06, 14:03 »
Klar hab ich das verstanden. Da steht aber noch weiter: "Dort haben sie das Gleiche zu erdulden wie die Tiere, die sie gepeinigt haben."

Denk das doch mal weiter. Durch wem erdulden?
« Letzte Änderung: 14.01.06, 14:07 von Gwendi »
Attin arkaszin boszkan ijerni, altin hoszti bolszada otka zsak

Offline schoßkind

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #13 am: 17.01.06, 07:36 »
ohh das ist aber eine schöne geschichte... hmm gwendi hat nicht ganz unrecht finde ich, dann müßten ja praktisch alle pferde, denen es schlecht ging, vorher menschen gewesen sein, die ihre pferde mißhandelten...  ??? ???

wir können es ja umschreiben, dass die menschen zwar das gleiche erdulden müßen aber bei vollen "Menschen" - Bewußtsein und nicht als pferd .. oh gott jetzt wirds kompliziert..

naja aber allem in allem wars schön zu lesen!!!

Sky

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Re: Herr der Pferde
« Antwort #14 am: 17.01.06, 13:34 »
Guter Kommentar Gwendi  ;D