Der Weihnachtsmann will in Rente gehen
Der heilige Abend ist für Weihnachtsmänner immer ein besonders anstrengender Tag. So auch für den Weihnachtsmann Klaus Einhundertvierundzwanzig. Dies ist auch leicht zu erklären. Wer das ganze Jahr über auf der faulen Haut liegt, dem fällt es schwer, auf einmal Höchstleistungen zu erbringen. Klaus Einhundertsiebzehn (alle Weihnachtsmänner heissen aus Tradition Klaus, der Einfachheit halber hat Petrus sie durchnumeriert) hatte daher schon einmal die Einrichtung eines Fitnesscenters für müde Weihnachtsmänner vorgeschlagen. Dies war jedoch vom himmlischen Finanzausschuss unter Hinweis auf die angespannte Haushaltslage abgelehnt worden.
Klaus Einhundertvierundzwanzig brummte vor sich hin. Es ist doch gar nicht so einfach, über all die Jahrhunderte hinweg alt und trotzdem gesund zu bleiben. Ja, wenn man wenigstens organisiert wäre... Die Engel hatten schon in den zwanziger Jahren eine IG »Himmlische Heerscharen« gegründet. Aber man selber... Es ist ja wahr, dass ganze Jahr über ist man damit beschäftigt, seine Freizeit zu organisieren, so dass die Gründung einer eigenen Organisation immer wieder verschoben wird.
Dass der diesjährige Heilige Abend daneben gehen würde, war Klaus 124 schon beim Aufstehen klar. Nicht nur, dass er, als er die Augen aufschlug sah, wie sein Rentier Rudolph – ja, das mit der roten Nase – den Kopf durch das geöffnete Fenster steckte und genüsslich den letzten Sockenhalter frass. Nein – zudem brachte der himmlische Postbote auch noch im letzten Moment das sechsunddreissigste »Update« des Wunschzettels von Holger aus Berlin. Klaus knurrte. Es war schon ein höllischer Einfall gewesen, diesem Jungen letztes Jahr einen Homecomputer zu schenken.
Zu alledem kam als Bote auch noch Hermes, der Gott der Diebe. Bei der derzeitigen Personallage hatte man sich im Lohnbüro gezwungen gesehen, die alten Götter zur Unterstützung wieder aus der Versenkung zu holen. Und so wurde der alte Gauner wieder in seiner Funktion als Götterbote eingesetzt.
Klaus brummte weiter in seinen Bart. Hermes hatte so etwas animalisches, archaisches, sexuelles an sich. Das war nichts für einen in Ehren ergrauten Weihnachtsmann. Obwohl... ein bisschen Spass hätte man ihm ja auch einmal gönnen können, aber der Alte war da so streng.
Klaus zuckte bei diesen Gedanken schuldbewusst zusammen. Zwar war vor etlichen Jahren im Rahmen einer Erneuerung die himmlische Gedankenzensur abgeschafft worden, aber man kommte ja nie wissen. Und seine alten Tage in der Paketsortiererei zu verbringen, davon träumte er ganz gewiss nicht...
Klaus beschloss, die vierunddreissigste Änderung des Wunschzettels zu ignorieren. Immerhin hatte er seinen Sack mit den Geschenken gestern schon gepackt und nur durch geschicktes Stapeln auch alles hinein bekommen. Holgers »Update« würde ihm doch nur die Reihenfolge durcheinander bringen.
Nun alles in den Schlitten. Zwar hatte Klaus schon einmal die Anschaffung eines Kleintransporters erwogen – so ein winziger, japanischer hätte ihm schon gerreicht –, aber die Haushaltslage... Ausserdem: Was wäre dann mit Rudolph? Und die Kinder? Ob die einen Weihnachtsmann mit Transport-LKW wollten? Die amerikanischen vielleicht, aber dann dürfte es kein kleiner japanischer Wagen sein.
Nun Schluss mit all diesen Gedanken. Das Katzenfell umgebunden, in die rote Robe geschlüpft und den Sack über die Schulter geworfen. Rupprecht hatte zwischenzeitlich Rudolph schon vor den Schlitten gespannt. Also los! Hoffentlich würde ihn sein Ischiasnerv wenigstens dieses Jahr in Ruhe lassen.
Liebe Kinder!
Wenn Ihr Eure Weihnachtswünsche äussert, denkt an den Weihnachtsmann. Er ist alt und müde geworden. Wünscht Euch lieber etwas zum Geburtstag oder zu anderen Festen. Das müssen dann Eure Eltern für Euch anschleppen. Und wenn Ihr dann im Sommer – vielleicht auf den Kanarischen Inseln – einen glücklichen, alten, bärtigen Mann seht, der bescheiden an einem Longdrink nippt und einen blonden Engel auf seinem Schoss hat, das ist dann der Weihnachtsmann, der nun seinen wohlverdienten Ruhestand geniesst