Lebenserinnerungen,
wenn das Thema schon so heißt, denke ich, daß ich einen Bericht von meiner Mutter (geb. 1923), die 1999 verstorben ist, hier mal reinsetzen kann. Sie hatte diesen auch schon mal zu Lebzeiten in einer Zeitschrift veröffentlicht.
Bericht von Ursula P. über ihre Zeit von 1943 bis 1945 in Ostpreußen
und die Flucht vor den Russen.
Eigentlich hätte ich den Bericht schon vor Jahren schreiben sollen! Vielleicht hätte ich dann doch mit Hauptmann Krone oder dessen Angehörigen aus Rendsburg Kontakt bekommen. Denn Hauptmann Krone habe ich es eigentlich zu verdanken, daß ich (wir) unbeschadet aus Ostpreußen heraus gekommen sind.
1943 hatte ich zuerst beschlossen, als Assistentin in Rendsburg zu bleiben. Und Direktor Körner war sehr enttäuscht, daß ich dann April 43 nach Ostpreußen zu Gabriele Th. und Isolde T. Eltern ging, um in Masuren in der "Lehrer-Landwirtschaft" mit zu helfen (Pfarrer und Lehrer hatten damals neben einem großem Garten noch eine kleine Landwirtschaft). Obwohl ich als "dritte Tochter" bei Fam. T.liebevoll aufgenommen wurde, dauerte es einige Monate Land und Leute verstehen zu lernen. Doch das herrliche Masuren hat mich gefangen genommen und ich war, nach fast zwei Jahren, fest entschlossen, ganz in dem geliebten Ostpreußen zu bleiben! Auch ich trauere darum, daß es verloren ist.
Bei Fam. T. blieb ich ein Jahr, dann löste ich Gabriele für ein halbes Jahr an der Landwirtschaftsschule in Rastenburg, als Beratungshilfe ab. Da hatte ich Gelegenheit große und kleine landwirtschaftliche Betriebe und vieles mehr kennen zu lernen. Ich nützte meine Freizeit um Tannenberg-Denkmal, Kurische Nehrungen (mit ihren Elchen) und vieles mehr auf Radtouren kennen zu lernen. In den beiden wunderschönen Sommern habe ich keine Gelegenheit verpasst, in den glasklaren masurischen Seen zu schwimmen. Noch heute freue ich mich, daß ich mit einer lieben Lehrerin am 7. Oktober bei herrlichem Sonnenschein, bei Rosengarten, in den Dobensee gestiegen bin, wir spürten unsere Körper kaum noch. Auch in dem halben Moy-See bin ich geschwommen; die andere Hälfte gehörte zu dem bekannten Führerhauptquartier Rastenthal.
Bei herrlichen Wetter schlief ich drei Nächte im Freien - leider hörte ich da Geschützdonner. Die erste Offensive auf Ostpreußen war gestartet, im Oktober kam dann die zweite! Und wir hofften und glaubten, daß kein Fußbreit ostpreußischer Boden freigegeben wird, so wie es der Gauleiter im Radio versprach. Im Spätsommer half ich dann auf verschiedenen Höfen, auf denen Not war, bei allen anfallenden Arbeiten.
So lernte ich den 500 ha großen Henriettenhof bei Rastenburg kennen. Und nach meinem halben Beratungsjahr habe ich dann dort angefangen zu schaffen. Ich fand dort meinen "Traumjob" in der Außenwirtschaft, nebenbei noch Innenwirtschaft. Wir hatten ca. 60 Arbeitskräfte.
Bei dem zweiten Angriff auf Ostpreußen im Oktober wurden damals Kindertransporte nach dem Westen gestartet. So wurden auch die 5 Gutskinder mit einer Tante zu Verwandten nach Oldenburg gebracht. Und langsam wurde es bis Dezember, wieder ruhig, unheimlich ruhig! Wir sagten: "Die Ruhe vor dem Sturm." Noch einmal fuhr ich zu Gabriele in den Landkreis Lötzen, da waren schon vorsorglich die Nachbarorte geräumt worden.
Am 1. Januar 1945 fuhr die Gutsfrau nach Oldenburg, die Kinder zu besuchen, sie kam am 17. Januar zurück . Am 15.01. wurde auf "unserem" Gut noch eine Treibjagd durchgeführt, obwohl ab dem 13.01. an der Front wieder geschossen wurde. Ca. am 21.01. wurde die "Zangenbewegung", die die Russen ja von uns gelernt hatten, vorgenommen. Und wir waren eingeschlossen! Frau W. ging dann auf Anraten von kompetenten Leuten auf die Flucht, damit die Kinder "im Ernstfall" wenigstens noch einen Elternteil hätten. Frau W. benützte die vorletzte Fahrt der "Gustloff", da sie ja schon am 23.1. flüchtete. Der tragische Untergang der "Gustloff" war am 30.1. mit ca 7500 Flüchtlingen.
Am 23.01.45 schrieb ich an meinen Vater: "Noch fahren wir Dung auf die Felder, noch dreschen wir. Die Straßen sind voller Flüchtlinge- und wir wollen nicht ernsthaft an eine Flucht glauben." Vom Ortsgruppenleiter aus durften wir nicht fliehen. Im Gegenteil, die Flüchtlinge wurden noch von den Straßen geholt, damit die Soldaten ungehindert zurück und die Parteibonzen fliehen konnten. So um den 24.01. bekamen wir größere Einquartierung mit dem Hauptmann Krone. Da wurde geplant, Kanonen um das Gut aufzubauen und wir faßten immer mehr Hoffnung, doch noch bleiben zu können. - Die Mannschaft schlief auf Stroh in dem Speisesaal. Dem Hauptmann gab ich mein liebes Zimmer, so sah er auch meine Bücher aus Rendsburg und das war seine Heimat.
Inzwischen schlief ich bei unserer Gutskindergärtnerin, die dann auch mit auf die Flucht ging. - In der Nacht 26/27 Januar wachten wir vom Lärm auf. Das Militär hatte Rückzugsbefehl bekommen. Die Russen waren kaum 30 km entfernt! Vom Artilleriefeuer rieselte schon der Kalk von der Decke und an einen geordneten Treck war nicht mehr zu denken.
Eben dieser Hauptmann riet uns, einen leichten Schlitten zu nehmen und neben der Straße querfeldein zu fahren. Unsere Gutsangehörigen wollten sich dieser Blitzflucht nicht anschließen. -Tags zuvor bekamen wir noch immer Fluchtverbot! Mein Chef suchte zwei widerstandfähige Pferde und einen leichten Schlitten heraus.
Zwei Sack Hafer, Pelze, die Papiere, für uns je einen Rucksack voll mit Allernötigstem, ein Brot, ein Stück Speck und eine Flasche Holundersaft, welche dann prompt bei den Minus 27 Grad gefror. Die Kindergärtnerin fuhr auch mit. Die erste Nacht waren wir im Freien auf einem verlassenen Gutshof. Leider rollten gleich am ersten Tag unsere zu dünnen Schlittenkufen auf. Wir fanden zum Glück auf dem Gut einen leider kleineren Schlitten, den wir unserer Deichsel anpaßten. Der Hafer mußte wegen Platzmangel, leider in den Schlitten ausgeschüttet werden, was sehr zum Nachteil war, als wir bei dichtem Schneegestöber mit dem Schlitten umkippten. - Schade um einen Teil Hafer. Anfangs wußten wir gar nicht, wo wir waren. Schon im "Feindesland"? Da brannte es auf einem Flugplatz, wir mußten die Pferde am Halfter nehmen und oft wurden hinter uns Brücken gesprengt. Am 30. 01. erreichten wir dann Braunsberg, am Frischen Haff, wo wir uns bis zum 01.02. bei Verwandten der Chefin, ein Ehepaar mit 13jähriger Tochter, ein wenig erholen konnten. Diese gingen dann mit uns auf die Flucht.
Aber wie?! Das Ehepaar hatte dann gerade auf der Schlittenbank Platz, mein Chef und ich, als Kutscher, ganz vorn. Hinten wurden dann noch für die zwei jungen Leute zwei Rodelschlitten angebunden. So ging es in Richtung Frauenburg, von wo wir, bei einsetzenden Tauwetter, das Frische Haff überquerten. Es durfte kein motorisiertes Fahrzeug mehr auf das Eis. Wir mußten im 75 Meter Abstand fahren und wenn die Soldaten immer wieder die Brücke über das Priel reparieren mußten, ertönte das "Halt! - Weiter!".
So gelangten wir nach dieser Nachtfahrt, 12 km in 12 Stunden, in Kahlberg an. Wir hatten noch das Glück, auf dem Eis einen verlassenen Kutschwagen zu finden, diesen banden wir hocherfreut an den Schlitten an und ließen die Rodelschlitten stehen. So war der Platzmangel erstmal behoben. Als dann später kein Schnee mehr vorhanden war, ließen wir den Pferdeschlitten stehen und es ging weiter auf vier Rädern. Wir hatten es ja noch gut, im Gegensatz zu den vielen Fußgängern, die mit ungeeignetem Schuhwerk durch Tauwasser und über das Eis laufen mußten. Auch wurden ganze Mengen gefangene Russen auf diese Weise mit "Heim ins Reich" geschleppt. Jede Nacht hatten wir ein anderes Lager, oft in guter Unterbringung, dann wieder mal weniger schön. In den Städten mußten wir um Essensrationen, ebenso um Hafer, anstehen. Die Überquerung der Weichsel, ebenso der Oder, dauerte jeweils 12 Stunden und das bei Nacht! Vor der Weichsel wurden alle "wehrfähigen" Männer und Burschen von und aus den Wägen zum "Volkssturm" geholt. So auch mein Chef!
Die Fahrt ging dann zu fünft weiter. Am 23.02. übernachteten wir auf dem Schloß Stolzenburg, Stettin, bei Frau Ley (Frau vom Arbeitsminister). Inzwischen waren ja die Russen wieder in einer "Zangenbewegung" bis fast Stettin vorgedrungen.
Ende Februar gelangten wir nach Neubrandenburg und gönnten uns zwei Tage Rast auf einem Gut. Das Studienratsehepaar war ziemlich erschöpft. Wir beschlossen, von der Möglichkeit, die Pferde gegen Entgeld stehen zu lassen, mein Chef hatte uns dies noch geraten, "um sie dann bald wieder mit nach Ostpreußen nehmen zu können", Gebrauch zu machen. Dieser Utopie gaben wir uns noch hin!- Der besagte Gutsbesitzer hatte in seiner Stube einen großen, goldenen Reichsadler mit Hakenkreuz hängen!
Dann ging unsere Flucht per Zug dem Ende entgegen.