Ich habe sieben Jahre lang meine Oma gepflegt und finde, es ist eher so, daß sie Seele bis zum letzten Moment da ist. Der Verstand auch- nur nicht in der Gegenwart. Da muß man manchmal ein bißchen "tricksen"....
Einmal, ich war gerade schwanger mit Nr. 2 , war außer mir, Oma und meiner Ältesten, die ganze Familie auswärts. Familienfeier oder so, weiß ich nicht genau. Mein Bruder kam zur verabredeten Zeit, um die von mir fertig gewaschene und umgekleidete Oma, die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt war, ins Bett zu bringen, ich sollte nicht so schwer heben. Sonst hat mein Mann das gemacht.
Nun wollte Oma aber partout weder umgezogen werden noch ins Bett- sie wollte auf Bernhard warten. Davon war sie nicht abzubringen. Mein Bruder und ich zogen uns zurück und hileten Kriegsrat. "Was machen wir denn bloß? Sie kann doch nicht auf Opa warten, der ist schon 40 Jahre tot." Nee, nee, sagte ich, Opa hieß Hermann, den meint sie nicht. Keine Ahnung, bei der riesigen Verwandtschaft, wer genau da Bernhard ist. Davon gabs im Zweifelsfalle mehrere....
Jedenfalls konnten wir ja diesen Bernhard, wer auch immer er sein möge, nicht herbeischaffen. Also mussten wir uns was anderes überlegen. Wir gingen wieder in die Stube und erklärten Oma - auf Plattdeutsch, ich kanns aber nicht schreiben
- Bernhard wär grad kurz dagewesen, keine Zeit, die Kühe sind ausgebrochen. Da muß er erst hinterher, und auch noch den Zaun flicken. Sie solle nicht auf ihn warten, habe er gesagt. Oma schien uns die Geschichte nicht ganz abzukaufen, mißtrauisch guckte sie von einem zu anderen, fügte sich aber. Aber unter stummen Protest. Sie trommelte energisch mit den Fingern ihrer gesunden Hand auf der Lehne des Rollstuhls und während sie sich sonst alle Mühe gab, beim Umziehen und waschen ein bißchen "gerade zu stehen", um mir die Sache leichter zu machen, ließ sie sich hängen wie ein nasser Sack. Innerlich mußte ich lachen- der reinste "passive Widerstand"
Als sie aber im Bett lag, war sie genauso sonnig wie sonst auch...
Am nächsten Morgen telefonierte ich mit meiner Mutter und erzählte ihr die Geschichte. Mama war entsetzt: "Mein Gott...je oller, je doller.. Sie meint Onkel Bernd, ihren Schwager! Was soll der denn nachts bei ihr?" Tja, das mögen die Götter wissen. Ich gehe mal davon aus, Oma war der Meinung, es sei noch keine ins Bett -geh-Zeit gewesen und wir hätten sie zur Unzeit ins Bett gesteckt. Jedenfalls war sie damals öfter mal in Zeit und Raum unterwegs....
Aber sie war immer gutgelaunt, sehr geduldig, wenn man sich bei der Pflege etwas ungeschickt anstellte, kicherte wie ein Teenie, wenn mein Mann sie jeweils morgens und abends in den Rollstuhl bzw. aufs Bett setzte...Oma war so klein und zierlich, daß Göga sie kurzerhand an Knien und Rücken anhob und wegtrug. Ich musste immer mit so einer Drehplatte arbeiten oder anfangs, als sie körperlich noch mehr Kraft hatte, sie umfassen und kleine Drehbewegungen Richtung Rollstuhl machen. Nie war sie boshaft oder schimpfte....
Als sie noch gesund war, war ihre größte Sorge, sie könne sich eines Tages nicht mehr selbst helfen. Als es soweit war, schien sie das entweder nicht zu merken oder es machte ihr nichts mehr aus.
Obwohl- drei Tage vor ihrem Tod, sie war wegen eines hartnäckigen Hustens ins Krankenhaus gekommen, und trotz Antibiotika wurde eine Lungenentzündung daraus, war sie fit (geistig) wie seit Jahren nicht mehr. Sie wirkte richtig "aufgeblüht", spielte mit meinen damals 8 und 2jährigen Töchtern und freute sich über die Aussicht, noch ein Urenkelkind zu bekommen ( hatte ich gerade erfahren
) Ich verabschiedete mich von ihr mit den Worten, bald sei sie ja wieder zuhause. Nein, sagte sie ganz ernst, sie käme nicht mehr nach Hause. Sie wolle auch nicht mehr, sie sei jetzt alt genug (92). Ich wunderte mich über ihr Reden- traf auf dem Flur den Arzt, der mir sagte, trotz aller Medikamentengabe würden ihre Werte immer schlechter. Passte so gar nicht zu ihrem Erscheinungsbild..Abends bekamen wir einen Anruf, daß sie ins Koma gefallen war, wir fuhren hin und zwei Tage später starb sie dann. Einfach so, wie "hinübergeschlafen"....
Mir fiel die Pflege von Oma nicht schwer, es war für mich wie ein Stück wiedergeben von dem, was ich als Kind - Oma wohnte bei uns zu Hause- von ihr bekommen hatte. Am schlimmsten fand ich dieses ständige Angebundensein- ein kleines Kind kann auch nicht allein bleiben, aber das kann man wenigstens schnell ins Auto packen und mit zum Einkaufen nehmen, bei pflegebedürftigen alten Menschen geht das schlecht....
Und- über Jahre einen körperlich voll fitten, aber geistig abwesenden Patienten zu betreuen, das geht sicher über die Kräfte der pflegenden Person hinaus.
Von daher würde ich diese Arbeit - als Angehörige- nur übernehmen, wenn ich das wirklich möchte- und nicht aus Pflichtgefühl oder irgendwelchen Erwartungen von anderen heraus. Das bedeutet in Extremfällen, daß man 10 Jahre - oder noch länger, je nachdem- ununterbrochen um diesen Patienten herum sein muß, der mitunter wirklich bösartig sein kann ( je nachdem, wo die Demenz beginnt, verändert sich auch die Persönlichkeit, hat man mir mal gesagt). Da sollte man auch auf genügend Freiräume für die pflegende Person achten. Besonders nett sind ja dann immer die weitläufigen Verwandten, die ein, zweimal im Jahr aufkreuzen, sich mit dem Patienten unterhalten und hinterher sagen, was jammern die denn,Opa ist doch noch ganz fit, er wusste ja noch alles, was wir als Kinder gemacht haben, wusste teilweise noch Dinge, die man selber längst vergessen hatte- die machen ihn wahrscheinlich kränker, als er ist, um Pflegegeld - oder später das Erbe- zu kassieren....
Ja, daß Opa noch alles von früher weiß, bestreitet ja niemand. Aber das Opa morgens vergessen hat, daß er noch ohne Hosen rumläuft, weil ihm beim Anziehen was dazwischenkam oder daß vor 30 Minuten Mittag gegessen hat und trotzdem klagt, nie bekäme er was zu essen- das bekommen die Herrschaften ja nicht mit...Das Kurzzeitgedächtnis geht nämlich zuerst "kaputt".
Viele Patienten "retten" sich auch über ihr Langzeitgedächtnis. Fragt man, wie alt er/sie denn sei, kommt als Antwort: "Ich bin von 1927", weil er das noch weiß, nicht aber, weilches Jahr wir jetzt gerade haben.....